Über die Arbeit eines Lektors

Aufgeschlagenes Buch

Die Arbeit eines Lek­tors unter­schei­det sich grund­le­gend von der eines Kor­rek­tors. Sie greift viel tie­fer in einen Text ein. Anhand eines kon­kre­ten Buches soll hier deren Wir­ken erläu­tert werden.

Wäh­rend Kor­rek­to­ren sich (fast) aus­schließ­lich um kor­rekte Recht­schrei­bung, Gram­ma­tik und Zei­chen­set­zung küm­mern, grei­fen Lek­to­ren viel tie­fer in einen Text ein. Sie lesen ihn im Hin­blick auf hand­werk­li­che, sti­lis­ti­sche, inhalt­li­che Schwä­chen. Falls sie in einem Ver­lag beschäf­tigt sind, auch im Hin­blick auf eine Ver­öf­fent­li­chung. Die Arbeit eines Lek­tors unter­schei­det sich damit grund­le­gend von der eines Korrektors.

BuchtitelEine gute Freun­din schenkte mir zu mei­nem Geburts­tag „Die Spiel­uhr. Eine Novelle von Ulrich Tukur“, einem bekann­ten deut­schen Film- und Fern­seh­schau­spie­ler. Da es sich hier um einen Bei­trag han­delt, der die Arbeit eines Lek­tors anhand eines kon­kre­ten Buches dar­stel­len soll und nicht um eine Rezen­sion des­sel­ben, soll hier nur so weit auf des­sen Inhalt ein­ge­gan­gen wer­den, wie es hier­für nötig ist.

Druck­tech­nisch und typo­gra­fisch ist das Werk auf­wen­dig und damit sehr anspre­chend gemacht: teil­weise gol­dene Farb­prä­gung auf Vorder- und Rück­de­ckel sowie Buch­rü­cken, schwar­zes Vor­satz, mit der Cen­taur für den Brot­text und der Apha­sia als Kapi­täl­chen­er­satz für die die Abschnitte ein­lei­ten­den ers­ten Wör­ter (Kapi­tel und damit Über­schrif­ten gibt es nicht) aus­ge­spro­chen gelun­gene und zum Inhalt pas­sende Schrif­ten. Dass aller­dings reich­lich Schus­ter­jun­gen auf­tre­ten, wird heut­zu­tage offen­sicht­lich toleriert.

Gesetzt wurde der Text nach den Regeln der alten Recht­schrei­bung, was auch lange nach der Ein­füh­rung der neuen nicht unge­wöhn­lich ist. Nicht unge­wöhn­lich auch, dass diese im Detail nicht immer kon­se­quent ange­wandt wird. Die Geschichte selbst ist jedoch zwar sehr span­nend, sofern die Leserin/​der Leser gern soge­nannte Fan­tas­ti­sche resp. Fantasy-Lite­ra­tur (hier: Con­tem­po­rary Fan­tasy) mit leicht gru­se­li­gem Ein­schlag mag. Aber sie ent­hält einige inhaltlich-​stilistische Feh­ler, an denen man immer wie­der hän­gen bleibt und die einen aus dem Fluss der Lek­türe reißen.

Am Boden lehnende Bilder und zerschepperndes Glas

Klei­nes Bei­spiel: Ein Bild lehnt „am Boden neben der Anrichte“. Kön­nen Sie sich das optisch vor­stel­len? Ich jeden­falls nicht! Ein Bild kann auf dem Boden ste­hen und an einer Wand, einem Schrank, von mir aus auch an einer Anrichte leh­nen, aber nicht am Boden selbst! Oder: Ein Stein­krug und meh­rere Glä­ser fal­len „zu Boden, wo sie schep­pernd zer­spran­gen“, wobei es sich bei dem Boden mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit um einen aus Stei­nen gehaue­nen han­delt, da wir uns in einem Raum im Turm eines Schlos­ses befin­den. Für mei­nen Geschmack kann nur etwas Metal­li­sches schep­pern, etwa das lose Schutz­blech eines Fahr­rads, der Aus­puff oder ein ande­res loses Teil eines Autos, aber zer­bre­chen­des Glas klirrt nun ein­mal! Gut, eine ein­ge­wor­fene Fens­ter­scheibe kann even­tu­ell auch mal schep­pern oder Glas, das zwar fällt, aber nicht zer­bricht, aber darum geht es hier nicht.

Dies sind nur klei­nere Feh­ler, die ein gutes Kor­rek­to­rat auch bemän­gelt hätte, aber es kommt noch viel dicker!

Der Blick durch ein Spaltbreit Tür

Im Ver­lauf der Novelle belauscht der Ich­er­zäh­ler einen Arbeits­kol­le­gen durch ein Spalt­breit Tür (nach der alten Recht­schrei­bung übri­gens „Spalt breit“!). Wir wis­sen zwar nicht, wie breit die­ser Spalt ist, doch nach dem, was er durch die­sen Spalt alles sehen kann, müsste die Tür eigent­lich sperr­an­gel­weit offen sein:

Er hatte sicht­lich Angst vor Philippe […]

Er sprach leise, aber kochte inner­lich vor Wut.

[…] hob die Schul­tern, streckte die Arme in erge­be­ner Geste von sich und bekam einen roten Kopf […]

[…] war jetzt auf dem Weg zu einem sei­ner gefürch­te­ten Wutausbrüche […]

[…] blickte zu Boden […]

[…] seine Augen hat­ten einen fieb­ri­gen Glanz.

Er setzte sich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte unsi­cher in die Runde.

Er machte eine Pause, als blickte er in die Ver­gan­gen­heit wie in ein fer­nes blü­hen­des Land.

usw., bis hin zu

Er starrte zu Boden und zit­terte leicht, aber ich glaube, daß es nie­man­dem außer mir auffiel.

Durch ein Spalt­breit Tür also! Auf die Idee, die Türe etwas wei­ter auf­zu­schie­ben, um die Leser­schaft wie den Autor selbst völ­lig an der Situa­tion im Raum teil­ha­ben zu las­sen, war­tet man zunächst ver­ge­bens. Die Ereig­nisse im Raum wer­den detail­liert wei­ter­erzählt, bis nach vie­len Seiten:

Etwas mußte gesche­hen, also öff­nete ich schwung­voll die Tür und trat erneut in den Raum.

End­lich! Schade nur, dass dort nun nicht mehr viel pas­siert. Chance ver­passt, ließe sich sagen, und die Arbeit eines Lek­tors hätte beinhal­tet, den Autor dar­auf hin­wei­sen zu müs­sen, dass das Öff­nen der Türe viel zu spät ein­ge­scho­ben wird.

Lyrische Schilderungen im Zustand höchster Erregung

Die Augen des erzäh­len­den Mit­ar­bei­ters im Raum „hat­ten einen fieb­ri­gen Glanz“, er „wischte sich den Schweiß von der Stirn“, „war in sich zusam­men­ge­sun­ken“ usw. Er berich­tet näm­lich von einem äußerst furcht­erre­gen­den Ereig­nis, dem er sich unmit­tel­bar zuvor gegen­über­sah. Er muss es erzäh­len, und so plat­zen die Worte gera­dezu aus ihm her­aus! Doch spricht jemand, der hoch­gra­dig erregt ist, in solch lyri­schen und wohl­ge­setz­ten Wor­ten, die an ein Pro­sa­ge­dicht erin­nern? Dazu noch so detail­liert, dass der Leser­schaft berech­tigte Zwei­fel an sei­nem Zustand kommen?

Da bin ich hin­ein­ge­fah­ren und wei­ter, immer wei­ter, an Fel­dern und Wie­sen vor­bei, auf denen das letzte Son­nen­licht lag, einen Fluß ent­lang, über Brü­cken ohne Gelän­der, ein altes Stau­wehr – und wußte irgend­wann ein­fach nicht mehr, wo ich war.

Das bekom­men wir jedoch auf den nächs­ten Sei­ten in aller Aus­führ­lich­keit beschrie­ben: in einem alten Schloss näm­lich, in dem der Erzäh­ler sich gleich dar­auf wiederfindet.

Es war … viel­leicht … wie in einem Film, in dem die Kamera lang­sam zurück­fährt, und wäh­rend das Cem­balo zur dra­ma­ti­schen Begleit­mu­sik wurde, ent­hüllte sich mir ein zwei­tes Auge und dann Stück für Stück das Gesicht einer Frau, bis sie schließ­lich ganz zu sehen war.

Wie in einem schlech­ten Film fühlt man sich tat­säch­lich, je wei­ter die Erzäh­lung des Film­mit­ar­bei­ters vor­an­schrei­tet, der, wie erwähnt, immer noch höchst erregt ist!

Als würde eine rasende Bewe­gung plötz­lich ange­hal­ten, deren Beschleu­ni­gung ich noch als Nach­hall in mir spürte, ver­stummte die Musik, die immer gewal­ti­ger gewor­den war, und auch die Bil­der waren plötz­lich verschwunden.

Nun, wir ver­schwin­den jetzt auch aus die­ser Novelle und mer­ken an: Bei aller Fan­tasy, die das Werk bereit­hält, sollte doch wenigs­tens in den Sze­nen, die auf der Gegen­warts­ebene spie­len, etwas mehr Rea­li­täts­sinn auf­ge­bracht sein. Die vie­len Ver­gan­gen­heits­ebe­nen, in die wir im wei­te­ren Fort­gang noch hin­ein­ge­zo­gen wer­den, sind näm­lich so unwahr­schein­lich wie gru­se­lig genug!

(Siehe auch auf Ronalds Noti­zen: „Stot­ternde Reiß­ver­schlüsse: schlech­ter Sex in Büchern” über den Bad Sex in Fic­tion Award!)

Ronald M. Filkas
Gelernter Schriftsetzer im Handsatz, Studium der Germanistik, zertifiziert abgeschlossene Fortbildungen „Web-Publishing Schwerpunkt DTP“ und Online-Redaktion, langjährige Erfahrungen als Schriftsetzer/ DTP-Fachkraft und als Korrektor und Lektor in Druckereien, Redaktionen und Verlagen. Mehr? Seite „Über mich“!

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